"Nicht mehr die vererbte Glaubenszugehörigkeit ist signifikant, sondern die freie Entscheidung des Einzelnen."



Was nach der Religion kommt

 

Peter Keune

 

 

Dieser Frage geht ein Tagesspiegelartikel von Manfred Gailus vom 01. Juli 2013 nach.


Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster und gemeinsam mit Olaf Müller von der gleichen Universität Autor des `Religionsmonitors` im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, sagte dem Tagesspiegel, dass der Rückgang der Religiosität und der Prozess der `Minorisierung von Religion` in Deutschland seit Jahrzehnten zu beobachten sei. Zwar sei ganz allgemein die Bindungskraft von Religion für die Gesellschaft unumstritten. Doch von der zunehmenden Abkehr gehen nach Pollacks Ansicht keine beunruhigenden Signale für den Zustand der Gesellschaft aus. Nach wie vor seien moralische Werte sehr stark in der Gesellschaft verankert. `Es gibt keinen Verlust im moralischen Niveau`, sagte er. Denn Religion sei zwar eine wichtige, aber eben `nur eine von sehr vielen Institutionen, die Werte vermitteln`. Die Zivilgesellschaft selbst strahle sie aus, in Familie und Schule würden sie weitergegeben. `Werte sind in Deutschland nach wie vor hoch akzeptiert.`"


In der Studie wird festgestellt, dass sich die Menschen in ihren Wertvorstellungen immer weniger an religiösen Autoritäten orientieren, zumal sich viele Werte von ihrem religiösen Ursprung emanzipiert hätten. So gälten Nächstenliebe, Solidarität und die Achtung vor dem Leben mittlerweile als allgemeine humanistische Werte. Die Unterschiede im Wertgefüge zwischen religiösen und nicht religiösen Bevölkerungsgruppen ebneten sich zunehmend ein.

Obwohl Religiosität in der Gesellschaft nicht mehr sehr stark verankert ist, sind Offenheit und Toleranz gegenüber gläubigen Menschen sehr groß, was wohl auch als Ausdruck des allgemein hohen Werteniveaus zu deuten ist. Etwa 80 Prozent der Befragten in Ost- und Westdeutschland sagen, dass man allen Religionen gegenüber offen sein sollte. Gegenteiliger Meinung sind in Westdeutschland nur zehn Prozent, in Ostdeutschland 16 Prozent.“


Noch zwei Dinge werden in der Studie hervorgehoben. Einmal die allgemeine Angst vor einer Bedrohung durch den Islam und das Unbehagen gegen die absolute Ablehnung jeglicher Religion.


Auch wenn von der allgemeinen Abkehr der Religion wie oben zitiert „kein Verlust im moralischen Niveau ausgeht, irritiert uns die Begründung, denn „Religion sei zwar eine wichtige, aber eben „nur eine von sehr vielen Institutionen, die Werte vermitteln.“


Aus heutiger Sicht einer offenen Gesellschaft mag dies so scheinen, aber nicht aus Sicht der göttlichen Ordnung. Denn nicht umsonst heißt es im ersten Gebot: „Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben Mir“. Dies steht nicht deshalb im Alten Testament, um einen so genannten Herrschaftsanspruch Gottes zu postulieren, sondern weil unser ganzes Leben allein von Gott durchpulst wird und wir ohne Seine Liebe und Weisheit kein Leben hätten. Zwar hat Er uns aus Seiner weisen Ordnung ein eigenständiges Bewusstsein, Denken und Wollen gegeben, um in aller Freiheit Ebenbild Seines Wesens werden zu können, aber dies ist nur im Herrn und durch Ihn möglich. Das Heraustreten aus Seiner Ordnung zieht Chaos nach sich. Und das ist es, was unter dem Fall Luzifers zu verstehen ist: Das Göttliche entthronen und das Eigenliebige an dessen Stelle setzen. Auf der anderen Seite muss man auch erkennen, dass der heutige Weltgeist einer säkularisierten Welt vom Herrn zugelassen ist, weil auf der Erde ein Konglomerat der geistig unterschiedlichsten Seelen in aller Freiheit nebeneinander leben (müssen). Erst in der geistigen Welt - nach dem Durchgang der ersten Stadien - polarisieren sich die Seelen allmählich in bestimmte Zustände (Neigungen) und bilden eigenständige Vereine himmlischer oder höllscher Art. Dann erst wird Gleiches mit Gleichem zusammen sein. In der Welt kommt das Gegensätzliche noch nicht so in Erscheinung, damit ein Nebeneinander möglich ist.


Die allgemeine Abwendung von Gott ist nicht nur Zeichen von Dekadenz, sondern – so widersprüchlich es auch scheinen mag – ein Zustand geistiger Unabhängigkeit. Solange sich das Geschöpf nämlich noch nicht vollständig frei und ungebunden fühlt, befindet es sich mehr oder weniger in einem unfreien Zustand. Erst wenn es sich von seinem göttlichen Ursprung frei zu machen glaubt, empfindet es Unabhängigkeit19. Dies ist der Bewusstseinszustand des scheinbaren Freiwerdens aus der Abhängigkeit von Gott. Damit ist es Gott gelungen, seine Gedanken und Ideen, die Wesensteile Seines eigenen Ichs sind, in endlos langen Entwicklungsperioden zu eigenständigen Geschöpfen aus Sich herauszustellen, die scheinbar unabhängig von Ihm als unseren Schöpfer Bewusstsein und freien Willen haben20. Im weiteren Verlauf geht es darum, dass die Geschöpfe sich dann freiwillig wieder zurück zur göttlichen Ordnung hin entwickeln, weil sie diese als allein wahr erkennen. Damit kehren sie zu ihrem Ursprung zurück, nun aber als freie, selbständige und ebenbildliche Kinder Gottes.

19 Wie sich das Kind von seinem Elternhaus abnabelt, um eigenständig zu sein.

20 Scheinbar, weil alle Geschöpfe nur gefestete Gedanken Gottes sind.


[Großes Evangelium Johannes Band 6,63,10]


Damit aber der einmal geschaffene Mensch wie aus sich frei fortbestehe, sich selbst ausbilde und festige, dann wie aus eigener Kraft frei werde im Denken, Wollen und Handeln, so ward von Gott schon von Ewigkeit eine Ordnung gestellt, derzufolge die einmal aus Gott hinausgestellten Ideen sich selbst nach und nach stets mehr und mehr von Gott isolieren müssen, endlich sich als ein von Gott getrenntes Sein und Leben gewisserart finden und fühlen müssen und nach ihren eigenen Gedanken frei wollend und frei tätig zu werden haben, auf dass sie dadurch als vollends lebensgefestet dann durch äußere Lehre von Gott als selbst werdende Götter geführt und zur Lebensvollendung wie auf eigenem Grund und Boden gebracht werden können.


Dazu aber bedarf es einer sehr langen Zeit, die von Gott aus wohl berechnet und in gar viele Perioden eingeteilt ist, in denen dies und jenes Fortschreitende vorgenommen werden kann.


Wie aber bei jedem ganz ordentlich sich fortbildenden Menschen einmal der Moment eintreffen muss, in dem er zur Aufnahme für höhere Weisheit befähigt wird, so ist nun dieser Moment für die ganze Schöpfung vor euren Augen, von Gott wohl berechnet, gekommen, durch den nun allen gereiften Geschöpfen die Gelegenheit geboten wird, aus ihren alten Gerichtsgräbern zur vollen Gottähnlichkeit überzugehen, und es heißt darum auch in der Schrift, dass nun alle, die in den Gräbern waren und noch sind, die Stimme des Menschensohnes hören werden und, so sie aus sich reif geworden sind, hervorgehen aus eigener Kraft zum ewigen, wahren und völlig gottähnlichen Leben. Und weil dieser von Gott schon von Ewigkeit her wohl und klar berechnete Moment eben jetzt gekommen ist, in welchem alle Geschöpfe die gewisse ganz selbständige Reife erlangt haben, die sich wahrlich am meisten dadurch erkennen lässt, dass die meisten von Gott beinahe nichts mehr wissen und von Gott vollends isoliert sind, so bin Ich als Gott denn auch da, um die Menschen nicht mehr durch Meine Allmacht zu führen, sondern allein durch die Lehre, die Ich ihnen nun also gebe, als wäre Ich Selbst nichts mehr und nichts anderes denn sie selbst.


Ich kann nun als eine Person mit ihnen wie ein Fremder mit einem Fremden verkehren, und der alte Grund hat nun völlig aufgehört, demzufolge niemand Gott schauen könne und dabei behalten das Leben. Nun könnet ihr Mich anschauen, wie ihr wollt, und behaltet dennoch unversehrt euer Leben!“


Der Herr erklärt auch, dass die früheren biblischen Gerichte nicht auf Grund einer Unkenntnis Gottes erfolgten, sondern weil sich jene Völker bewusst - wohl um Gottes Existenz wissend – gegen ihn stellten und so Katastrophen auslösten wie beispielsweise die Sintflut.


Zur Zeit Jesu gab es keine völlige Ablösung von Gott, weil viele Menschen noch den strengen religiösen Kulten unterlagen. Auch stellten die Abhängigkeiten von den allenthalben heidnischen Göttern noch eine Gebundenheit dar. Erst heute werden auch diese letzten Bande durch Säkularisierung aufgehoben. Selbst kirchlich gebundene Menschen haben kaum Kenntnis von Gottes Wesen.21 Ungeachtet dessen gibt es (und muss es geben!) überall auf der Erde Seelen, die mit den Himmeln verbunden sind, denn ohne geistige Verbindung könnte diese Welt nicht bestehen.

21 Dies ist nach der Neuoffenbarung der Moment, in dem sich der Mensch in seinem Bewusstseinszustand von Gott gelöst hat. Unbewusst bleiben wir aber immer an Gott gekoppelt, da wir das Leben von Ihm haben.


Dazu Emanuel Swedenborg:


Dass der neue Himmel (Anm. in der Geistigen Welt) früher gebildet wird als die neue Kirche auf Erden, ist der göttlichen Ordnung gemäß, denn es gibt eine innere und eine äußere Kirche, und die innere Kirche macht mit der Kirche im Himmel, also mit dem Himmel eins aus, und das Innere muss früher gebildet werden als das Äußere, und nachher das Äußere durch das Innere.

Inwieweit dieser neue Himmel, welcher das Innere der Kirche bei dem Menschen ausmacht, wächst, insoweit steigt aus diesem Himmel das neue Jerusalem, das ist die neue Kirche, herab; daher dies nicht in einem Augenblick geschehen kann, sondern in dem Maße geschieht, wie das Falsche der vorigen Kirchen entfernt wird,22 denn das Neue kann da keinen Eingang finden, wo das Falsche zuvor eingezeugt worden ist, es wäre denn, dass dieses ausgerottet werde, was bei der Geistlichkeit geschehen soll, und so bei den Laien.“ ("Wahre Christliche Religion" 784)

22 Hervorhebung durch uns.

Andere Untersuchungen auf dem Buchmarkt wie „Der verlorene Himmel, Glaube in Deutschland seit 1945“ von Thomas Großbölting23 schildern detailliert die großflächige Entwicklung der Säkularisierung in der Bundesrepublik.

23 Im Verlag Vandenboek&Ruprecht, Göttingen 2013

Wer die Glaubensgeschichte der Deutschen im vergangenen Halbjahrhundert untersucht, wird einen eklatanten Bedeutungsverlust des Religiösen vorfinden. Ungeachtet der in jüngster Zeit verbreiteten, modischen Rede von einer angeblichen `Wiederkehr der Religion` kann im Blick auf die vergangenen fünf bis sechs Jahrzehnte der wissenschaftliche Befund nur lauten: Eine tief greifende Säkularisierung hat stattgefunden, der einst weithin geglaubte `Himmel` ist verloren gegangen. `Ein ‚christliches Deutschland’`, so sagt der Autor pointiert in seiner Einleitung, `gibt es nicht mehr.` `Gleichwohl sind Glaube, Kirchen und Religion nicht aus dem Leben der Deutschen verschwunden, aber sie haben sich insgesamt verdünnt, sie sind mehr an den Rand geraten, und sie sind im Leben der vielen ganz oder weitgehend abwesend.`


`Diese Transformationen des Religiösen` schildert der Verfasser in drei Kapiteln mit den angemessenen Differenzierungen: frühe Nachkriegszeit und `Ära Adenauer`, eine fast schon archaisch anmutende Zeit, in der die alte christlich - kirchliche Welt noch halbwegs in Ordnung schien; sodann die tiefe Zäsur der `Swinging Sixties`, die dynamische Lebensstilrevolution einer jungen Generation mit Beatles, Minirock, Karl Marx und dem rebellischen Zeitgeist von ’68. Das war eine bewegte Epoche, die religionsgeschichtlich einen scharfen Abbruch religiöser Sitte und Tradition markierte. Schließlich drittens die jüngsten Jahrzehnte, als sich die kirchlichen Strukturen der beiden großen Konfessionen, die einst das religiöse Monopol besaßen, weiter auflösten und das Land mehr und mehr begann, Konturen einer multireligiösen Gesellschaft anzunehmen. Das unaufhaltsame Anwachsen der `Konfessionsfreien` zu einer dominanten Größe in den Konfessionsstatistiken, die wachsende Präsenz eines islamisch geprägten Bevölkerungsanteils, vielfältig-bunte und oft kurzlebige, neureligiöse Bewegungen gehören zu den prägenden Signaturen der jüngsten Phase. `From Church to Choice`, von der im Selbstlauf vererbten Konfessionszugehörigkeit zur individuellen Wahl von Glaube und Konfession – so ließe sich dieser dramatische Wandel charakterisieren.“

Der letzte Satz ist aufschlussreich. Nicht mehr die vererbte Glaubenszugehörigkeit ist signifikant, sondern die freie Entscheidung des Einzelnen. Dies ist auch in der Berliner Gemeinde zu beobachten. Noch 1960 setzte sich diese aus mehr oder weniger zahlreichen Familienangehörigen zusammen, welche aber eher Mitläufer waren. Da bestimmte noch das Familienoberhaupt über den Kirchgang.24 Dies hat sich grundlegend geändert und es kommen zu uns nur noch persönlich engagierte Menschen, meist als Außenseiter der eigenen Familie.

24 Eines unserer ältesten Mitglieder erinnert sich, wie Vaters Entscheidend bindend war.


Natürlich hat sich dadurch die Zahl der Besucher unserer Veranstaltungen vermindert, aber die innere Zugehörigkeit erhöht.

 

(Mit Genehmigung des Verfassers aus: DAS PROGRAMM April bis Juli 2017, Swedenborg Zentrum Berlin)


Siehe auch linke Randspalte unter "Religionen / Kirchen (1)", Thema "Die Religion der Zukunft" (Gottfried Mayerhofer)