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Sein und Nichtsein

 


Sagte Raphael: „Ich wußte es ja, daß du hier an mir eine Erfahrung machen wirst, an der deine in dir noch stark haftende griechische Philosophie einen Schiffbruch erleiden wird. Diese muß aus deinem Gemüte, so du das Wesenhafte des Reiches Gottes schon bei deinen Leibeslebzeiten fassen willst!

 

Was faselst du von einem Sein und Nichtsein?

 

Es gibt nur ein Sein; aber ein Nichtsein gibt es im ganzen endlosen Schöpfungsraume nimmerdar.

 

Das zeitlich materielle Dasein ist freilich wohl nur ein Probedasein zur Erreichung des wahren und nimmerdar zerstörbaren Daseins, ist aber in sich dennoch auch nur ein völlig geistiges Dasein, da es an und für sich in der vollsten und allerausgedehntesten Unendlichkeitssphäre unmöglich ein anderes wirkliches wahres Dasein geben kann.

 

Sieh Freund, mit aller deiner griechischen Weltweisheit, - dort sitzt nun der Herr unter uns! Er ganz allein ist das wahre und ewig wirkliche Dasein in Sich Selbst; wir sind nur Seine durch Seinen Willen vom Kleinsten bis zum Größten verwirklichten Ideen und Lichtgedanken.

 

Da aber Seine Ideen und Lichtgedanken als die Frucht Seiner ewigen und endlosen Liebe, die Sein Wesen und Sein ist, gleich Ihm unvergänglich und ewig hin unzerstörbar sind, so ist ja unser Dasein auch ein völlig für ewig hin unzerstörbares im reellen geistigen Sein.

 

Da aber Seine endlose Weisheit und Seine Liebe aus Seinen Ideen und Gedanken nicht nur für Ihn Selbst schaubare bewegliche – wenn man so nach menschlicher Weise sagen könnte – wie etwa für Sein vergängliches und gewisserart vorübergehendes Vergnügen geschaffen hatte, sondern daß sie als Ihm – weil aus Ihm – völlig ähnliche und selbständige freie Wesen für ewig bestehen sollen, so sind diese Seine Ideen und Gedanken nicht mit denen der Phantasie eines Menschen als ähnlich zu stellen, sondern sie sind so sicher wahre Realitäten, als Er Selbst die einzige, ewige allein wahre Realität ist.

 

Daß Er allen Seinen überendlos vielen Ideen und Gedanken ein zu ihrer Selbständigkeitsfestung gewisses materielles Probedasein gibt, dafür hat er in Seiner endlosen Weisheit sicherst und wahrst schon den besten und wahrsten Grund; denn welch ein wahrer Meister, der ein großes Kunstwerk errichten will, wird zuvor nicht mit sich in möglichster Klarheit beraten, wie es für dauernd als das zu erhalten sein werde, was es nach dem weisesten Plane, den der Meister in sich faßte, sein soll?

 

Es ist also völlig unmöglich, daß da nur ein Pünktlein von dem je vernichtet werden könnte, was einmal da ist, weil alles einmal Daseiende in der endlosesten Fülle der Gedanken und Ideen des Herrn und ewigen Meisters seine unvertilgbare Realität hat. Daß die in der materiellen Welt vorkommenden Formen, Erscheinungen und Wesenhaftigkeiten Veränderungen und scheinbaren Vergänglichkeiten unterliegen, das ist vom Herrn schon ebenso bestimmt wie bei einem weisen Baumeister, der irgend eine große und feste Burg zu erbauen hat. Da wirst du im Anfange des Baues auch eine übergroße  Menge von allerlei rohen Bausteinen, Ziegeln, Balken und noch eine große Menge anderer zum Bau erforderlichen Dinge bemerken; aber all diese für sich einzelnen Dinge werden durch die Anordnung des Baumeisters zuvor noch gewaltigen Veränderungen unterworfen werden, bis sie zum großen Burgbau als tauglich und brauchbar werden verwendet werden können, was du aus dem besagten Bilde gar leicht ersehen und auch begreifen wirst. Und geradeso sind denn auch alle naturmäßigen Dinge, von denen der Mensch den Schlußstein bildet, ein vorangehendes Baumaterial, aus dem dann erst das Wesenhafte und Unzerstörbare der Geisterwelt hervorgehen muß und wird.

 

Oder meinst du wohl, daß der Meister, der den sichtbaren Himmel, diese Erde mit allem, was auf ihr sich vorfindet, und den Menschen aus Sich nach Seiner ewigen Liebe und Weisheit geschaffen hat, auch nur das unansehnlichste Moospflänzchen etwa darum hat werden lassen, auf daß er, der Ewige, an solch einem Geschöpflein Sich ein paar Augenblicke lang vergnügte, es dann wieder verderben und vergehen ließe, aber dabei sogleich auf einem andern Plätzchen ein gleiches Vergnügungsspiel begänne?

 

O Freund, wie kleinlich doch wäre solch eine Idee!

 

Sieh, wenn der Herr auch nur einen kleinsten Seiner schöpferisch göttlichen Gedanken und Ideen irgend völlig vertilgen und vernichten könnte, so würde er ja offenbar an Seiner endlosesten Vollkommenheit etwas verlieren, - was in sich aber die reinste Unmöglichkeit wäre; denn Er ist dem ewigen Geiste nach eben jene Macht, die den endlosen Schöpfungsraum allerorts mit Seiner allwirkenden Gegenwart erfüllt! Wohin in Ihm Selbst sollte Er dann ein aus Ihm und in Ihm durch Seinen Willen realisiertes und einmal ins selbstische (selbständige) Dasein gestelltes Wesen tun, daß es völlig zunichte werden könnte?

 

Wenn du das alles recht aufgefaßt hast, so wirst du dein altes Sein und Nichtsein wohl dahin zu berichtigen verstehen, daß es nur ein Sein, aber ewig nie ein Nichtsein geben könne. Denn gäbe es ein Nichtsein, so müßte es doch irgendwo sein und bestehen; bestünde es aber irgendwo, da wäre es ja doch kein Nichtsein, sondern ein Etwas, das am Ende doch auch da wäre, und du kämst mit aller deiner Weltweisheit vollends um dein Nichtsein.

 

Siehe, weil du mir nach deiner Griechenphilosophie hattest etwas erweisen wollen, das unmöglich je zu erweisen ist, so habe ich denn auch derselben Waffe mich bedient und dir damit ein rechtes Licht angezündet. Wirst du es in dir zu einer recht hellen Lebensflamme werden lassen, dann wird dir auch das Wesenhafte des Reiches Gottes in sich, das heiß in seiner rein geistigen Sphäre, wie auch in wohlentsprechender Beziehung und innigsten Verbindung sowohl auf dieser Erde als auch in den andern zahllos vielen Erdkörpern, davon du einen allergeringsten Teil als Sterne am sogenannten Firmament erschaust, klar und begreiflich werden. Aber deine alte Griechenphilosophie mußt du ganz aus dir entfernen! Denn in dieser mit Händen zu greifenden Wahrheit wirst du doch sicher auch einen wahren Trost finden denn in einer Lehre, nach der ein Mensch am Ende seines kurzen Erdenlebens seine Glückseligkeit im vollen Nichtsein erwartet!“ (GEJ.09_176,01f)