Das Große Evangelium Johannes ist  ein wunderbarer Schlüssel zum Verständnis des "kleinen"  Johannesevangeliums... Es führt uns in die Geisteswelt Jesu ein, und zwar in einer Ausführlichkeit, die bis dahin nicht für möglich gehalten wurde.


 

Das Johannesevangelium

im Lichte der Neuoffenbarung

 

Thomas Noack

 

 

1. Die Wertschätzung des Johannesevangeliums durch die Neuoffenbarung (NO)

2. Der Auswahlcharakter des Johannesevangeliums

2.1. Der Auswahlcharakter in der Anordnung des Materials

2.2. Der Auswahlcharakter im Material selbst

3. Der Entsprechungscharakter des Johannesevangeliums

4. Die Lehre im Hintergrund

4.1. Der Kosmosbegriff des Johannesevangeliums

4.2. Die Christologie

 


1. Die Wertschätzung des Johannesevangeliums

durch die Neuoffenbarung (NO)


Das Hauptwerk der NO trägt den Titel "Das Große Evangelium Johannes"; es knüpft also an das Johannesevangelium des Neuen Testaments (NT) an. Das ist ein Hinweis auf die geistige Verwandtschaft; es sind Schriften aus dem Geist der Liebe. Die NO aus dem Inneren Wort des Herzens; das Johannesevangelium aus dem Geiste des Lieblingsjüngers, der "an der Brust Jesu" (Joh 13.23) lag.1 Aber die Verwandtschaft ist nicht nur eine des Geistes, sondern auch des Inhalts. Wer das 10bändige Johanneswerk liest, stellt fest, daß es das biblische Johannesevangelium Vers für Vers erklärt. Erst im 4. Kapitel (Jesu Aufenthalt in Samarien) löst sich das Große Evangelium von seiner Vorlage und erzählt frei das Wirken Jesu. Doch auch da stoßen wir immer wieder auf die Szenen und Gespräche, die dem Johannesevangelium des NT zugrunde liegen. Diese Paralleltexte ermöglichen den Vergleich der johanneischen Überlieferung mit den ursprünglichen Jesusworten. Und auch die Texte im Großen Evangelium, die ohne Parallele sind, stellen eine wertvolle Verstehenshilfe dar. Denn sie zeigen uns die Weisheit Jesu und somit den geistigen Hintergrund seiner Worte im NT. Was dort Andeutung bleiben muß, tritt uns in der NO in ungeahnter Ausführlichkeit entgegen. Das Große Evangelium Johannes ist also ein wunderbarer Schlüssel zum Verständnis des "kleinen" Johannesevangeliums.

 

Dieses Evangelium wird heute meist verkannt. Dennoch steht es der Wahrheit historisch und geistig am nächsten. Es ist der Bericht eines Augenzeugen. Keine fiktive Rede, keine Gemeindetheologie, sondern ursprüngliches Jesuswort; keine Gnosis, kein Qumran, sondern Jesu Geist. Er ist eigentlich sogar der Autor des Evangeliums, denn es entstand unter seiner Leitung. Im Lorberwerk heißt es dazu: Die beiden Evangelien des Johannes und des Matthäus "sind unter Meiner persönlichen Leitung geschrieben worden" (Ev I.91.8; vgl. auch Ev V.121.1). Doch nur Johannes enthält "die wichtigsten und tiefsten Dinge" (Ev I.100.6). "Denn in allem, was du [Johannes] schreibst, liegt das rein göttliche Walten von Ewigkeit zu Ewigkeit durch alle schon bestehenden Schöpfungen und durch jene auch, die in künftigen Ewigkeiten an die Stelle der nun bestehenden treten werden!" (Ev I.113.10) Der Theologe Ernst Käsemann hatte ein gutes Gespür, als er schrieb: "Der Evangelist, den wir Johannes nennen, scheint ein Mann ohne deutlichen Schatten zu sein. Wir hören seine Stimme, die sich klar von andern der Urchristenheit abhebt, und sehen doch nicht scharf ihren historischen Ort. Sehr viel von dem, was sie sagt, ist durchaus begreiflich, und wir werden dadurch immer wieder aufs stärkste bewegt. Stets bleibt sie aber seltsam unirdisch."2 Die Stimme des Geistes tönt immer geheimnisvoll. Für das Johannesevangelium gilt, was Jesus einst sagte: "Der Geist weht, wo er will; und du hörst seine Stimme, weißt aber nicht, woher sie kommt und wohin sie geht." (Joh 3.8) Der vielgesuchte "historische Ort" des vierten Evangeliums ist der historische Jesus selbst; seine Stimme ist in der Tat "seltsam unirdisch".

 

Der Verfasser des vierten Evangeliums ist Johannes. Der wiederum ist mit dem Lieblingsjünger identisch, der im 21. Kapitel des Evangeliums ausdrücklich als Verfasser genannt wird: "Dieser Jünger ist es, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist." (Joh 21.24) Zur Verfasserfrage und überhaupt zur Entstehung erfahren wir aus der NO:

 

"Man stellt zwar jetzt von einer gewissen gelehrten Seite die Behauptung auf, daß das Evangelium Johannis nicht von seiner Hand geschrieben sei.3 Freilich, solange er als Apostel mit Mir herumreiste, verfaßte er nur Bruchstücke, indem er das Denkwürdigste aufzeichnete. Aber in seiner sogenannten Verbannung auf der Insel Patmos …, konnte er in der … Veste des Griechen Cado … unbeanstandet sein Evangelium in eine rechte Ordnung bringen und gab darin für die Nachwelt soviel kund, als sie zu ihrer Beseligung nötig hat. Von allem andern aber sagte er am Ende, daß 'Ich noch gar vieles getan und gelehrt habe, was nicht in diesem Buche geschrieben ist, und würde jemand das in die Bücher schreiben, so würde solches die Welt (noch) nicht fassen' [Joh 20.30f; 21.25]. Und mit dieser triftigen Bemerkung schloß er sein Evangelium, nahe gerade um die Zeit, als Jerusalem von den Römern zerstört wurde4, worauf Johannes noch eine geraume Zeit lebte und seine Gesichte unter dem Titel 'Offenbarung des Johannes' aufs Pergament brachte. Bei dieser Gelegenheit ward er wohl zu öftern Malen von einem ihm über die Maßen geneigten Freunde im Schreiben unterstützt, da er in dieser Zeit schon über die hundert Jahre Alters zählte. Dieser sein Freund führte auch den Namen Johannes5, den er sich aber vom Johannes bei der Gelegenheit geben ließ, als der Evangelist ihn taufte und Meinen Geist über ihn ausgoß. Denn von Geburt war dieser Johannesfreund ein Grieche und führte natürlich auch einen ganz anderen Namen …" (Suppl 263f).

 

Die historische Glaubwürdigkeit des Johannesevangeliums ist außeror-dentlich groß: "Was Johannes spricht, ist allein vollkommen richtig." (Suppl 262) "Haltet euch daher nur an den Evangelisten Johannes; denn dieses Evangelium, sowie seine Offenbarung, sind von seiner Hand geschrieben." (Suppl 247) Aber der Augenzeuge Johannes stand auch geistig der Wahrheit am nächsten. Er verstand Jesus Christus, das menschgewordene Gotteswort, deswegen am tiefsten, weil er ihn mit den Augen der Liebe sah.

 

"Johannes ist ein reiner Diamant in der Liebe, und darum sieht er auch tiefer denn jemand anders von euch." (Ev IV.88.11) "Johannes … stellt den Geist des Menschen dar, der da völlig eins ist mit Mir, also Meine Liebe …" (Hg III.269.6).

 

Die Sicht der NO (Augenzeugenbericht etc.) ist mit den Texten des Johannesevangeliums gut vereinbar. Sie ist also in diesem Sinne wissenschaftlich (denn als Wissenschaftler entwickelt man Modelle, die möglichst viele Beobachtungen erklären sollen). Dennoch wird sie in der gelehrten Welt kaum Anklang finden, denn dort besteht ein anderer Konsens. Obwohl es bei der Interpretation des Johannesevangeliums "noch allzu viele offene Fragen"6 gibt, herrscht immerhin Einigkeit darüber, daß es jedenfalls nicht von einem Augenzeugen stammt. Felix Porsch (katholischer Theologe) referiert die Stimme der Mehrheit, wenn er schreibt: "Ausgeschlossen ist, daß das vierte Evangelium von 'Johannes, dem Sohn des Zebedäus' und Bruder des Jakobus, also einem Jünger Jesu und Augenzeugen der Ereignisse verfaßt worden ist."7 Das Material könne also nicht auf Jesus selbst zurückgeführt werden, sondern entstamme "einer Schule mit Traditions- und Lehrbetrieb"8. Den "joh Verkündigungstyp" könne man "nur innerhalb der Theologiegeschichte des Urchristentums einordnen, nicht aber zur Rekonstruktion der Verkündigung Jesu benutzen".9 Daher datiert man ihn gern möglichst spät (Ende des 1. Jahrhunderts)10. Der Konsens der Gelehrten bedeutet, daß Jesus im Johannesevangelium nicht mehr zu uns spricht. Das Wort ist ihm nur in den Mund gelegt; in Wahrheit entstammt es einer zweifelhaften (gnosisverdächtigen) "Schule". Solche Ansichten darf man jedoch nicht allzu ernst nehmen, denn sie sind - auch wenn sie sich wissenschaftlich geben - reine Spekulation. Ein so gestandener Theologe wie Ernst Käsemann spricht es offen aus: "Die sogenannten Einleitungen [in das Neue Testament] sind auf weite Strecken in die Gattung der Märchenbücher einzureihen, mag ihr trockener Ton und Inhalt noch so sehr Tatsachenreportagen vortäuschen."11 Im übrigen gibt es in der Forschung zu jeder These eine Gegenthese (die jedoch bei der Majorität zunächst keine Beachtung findet). Aus der Sicht der NO besonders interessant ist das Buch von John A.T. Robinson, "Redating the New Testament", worin er die Meinung vertritt, daß "alle Evangelien vor dem Jahre 70 abgefaßt sind"12.  Und Donald Guthrie führt in seiner Einleitung sogar gute Gründe dafür an, daß der Verfasser des vierten Evangeliums Johannes ist.13

 


2. Der Auswahlcharakter des Johannesevangeliums


Stellt man neben den elf Bänden des Großen Evangeliums Johannes eine Ausgabe des kleinen Evangeliums, dann ist dessen Auswahlcharakter offensichtlich. Darauf weist sein Verfasser auch selbst hin; er schließt seinen Bericht nämlich mit den Worten: "Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch." (Joh 20.30) Und: "Es sind noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat." (Joh 21.25) Im Großen Evangelium ist das Original des biblischen Berichtes meist irgendwo enthalten, jedoch vollständiger. Das kann bei Stellen, die in der neutestamentlichen Kurzfassung schwer zu verstehen sind, eine große Hilfe sein. Außerdem ist der NO die Situation, in der die Gespräche Jesu mit seiner Umgebung stattfanden, zu entnehmen, was ebenfalls von Nutzen sein kann. Gelegentlich werden zeitgeschichtliche Hinweise gegeben. Sie dienen dem Verständnis eines Textes, der in einen uns nicht mehr vertrauten Lebensraum eingebettet ist. Schließlich das Wichtigste: das Große Evangelium führt uns in die Geisteswelt Jesu ein, und zwar in einer Ausführlichkeit, die bis dahin nicht für möglich gehalten wurde. Das hat natürlich exegetische Konsequenzen, die im folgenden an einigen Beispielen gezeigt werden sollen.


2.1 Der Auswahlcharakter in der Anordnung des Materials

 

Die Einsicht, daß das Johannesevangelium aus Erzählstücken zusammengesetzt ist, die ursprünglich nicht zusammenhingen, erklärt Brüche in der Makrostruktur. Denn solange Johannes mit Jesus umherreiste "verfaßte er nur Bruchstücke, indem er das Denkwürdigste aufzeichnete" (Suppl 263). Erst einige Jahrzehnte später brachte er sie "in eine rechte Ordnung" (Suppl 263). So entstand ein einheitliches Evangelium aus Material, das aus unterschiedlichen Zeiten, Orten und Gelegenheiten stammte. An den Nahtstellen der einzelnen Abschnitte ist der zusammengefügte Charakter des Evangeliums manchmal noch zu beobachten. Gerade die Theologen haben darauf aufmerksam gemacht. Sie rechnen jedoch nicht mit der Möglichkeit, daß zwischen den einzelnen Erzählungen zahlreiche weitere Geschehnisse liegen können. Mit dieser Möglichkeit können sie schon deswegen nicht rechnen, weil sie das Material nicht auf Jesus selbst zurückführen.

 

Ein bekanntes Beispiel sind die geographischen Brüche in den Kapiteln 4 bis 7. Darunter ist der häufige Ortswechsel Jesu von Judäa (im Süden) nach Galiläa (im Norden) zu verstehen. Er ist unwahrscheinlich, wenn man das Evangelium (entgegen Joh 20,30; 21,25) für lückenlos hält. Nach Joh 4 verläßt Jesus Judäa, um nach Galiläa zu ziehen. Joh 5 spielt jedoch schon wieder in Judäa (Jerusalem), Joh 6 wieder in Galiläa (See Tiberias) und Joh 7 wieder in Judäa. Diese Reisetätigkeit ist vielen Exegeten zuviel. Anstatt nun aber einfach Joh 20,30 bzw. 21,25 ernst zu nehmen und von zusammengestellten "Bruchstücken" auszugehen, zwischen denen ganz selbstverständlich Lücken klaffen, sind Umstellungen der Kapitelfolge beliebt. Jürgen Becker, Professor für Neues Testament, meint: "Diese Ungereimtheiten beheben sich ungezwungen und vollständig, wenn Joh 6 nach Joh 4 geordnet wird und so Joh 5 vor Joh 7 steht."14 Die "ursprüngliche Ordnung" sei also "4,1-54; 6,1-71; 5,1-47; 7,15-24; 7,1ff" gewesen.15 Dagegen zeigt der Blick ins Große Evangelium, wie groß die Lücken zwischen den Kapiteln des biblischen Evangeliums sein können. Die Ereignisse bis zum 4. Kapitel des biblischen Evangeliums werden im 1. Band des Großen Evangeliums geschildert; die des 5. Kapitels dagegen erst im 6. Band.


2.2 Der Auswahlcharakter im Material selbst

 

Der Auswahlcharakter wirkt sich nicht nur auf die Anordnung des Materials, sondern auch auf dieses selbst aus. Der antiken Schreibweise entsprechend zeichnete Johannes von den Gesprächen und Wundern Jesu nur das Grundgerüst auf. So wurden mitunter aus Dialogen Reden, weil die Dialogpartner sukzessive ausgeblendet wurden. Beispiele hierfür sind das Nikodemusgespräch (Joh 3.1-21) und die christologische Rede in Joh 5.19-47. Zur antiken Schreibart heißt es im Lorberwerk: "… in der Zeit, als der Evangelist das Evangelium niederschrieb, war es die Art und Weise, daß man alle möglichen Umstände, die sich irgend von selbst verstehen und annehmen ließen, als unnötige Sätze ausließ und bloß nur die Hauptsätze aufzeichnete und alle Nebenumstände, wie man heutzutage sagt, 'zwischen den Zeilen lesen' ließ." (Ev I.6.13)

 

Das Große Evangelium erläutert diese Schreibart an drei Versen (Joh 1.35-37); zu Vers 35 heißt es: "Ganz urtextlich lautet … der 35. Vers also: 'Des andern Tages stand abermals Johannes und zween seiner Jünger.' Hier fragt es sich: Wo stand er, und waren die zwei Jünger bei ihm, oder standen sie irgendwo auf einem andern Platze, nur zu gleicher Zeit? - Es muß hier jedem sogleich in die Augen fallen, daß hier weder der Standpunkt und noch weniger die Handlung der beiden Jünger bezeichnet ist. Ja warum hat denn der Evangelist solches Umstandes nicht erwähnt? Der Grund ist schon oben angedeutet worden; denn es versteht sich ja von selbst und hat sich besonders für jene Zeit, in der also zu schreiben Regel war, ganz bestimmt von selbst verstehen lassen müssen, daß Johannes am Flusse Jordan und daselbst unter einer Weide stand und allda harrete, ob jemand käme und sich von ihm taufen ließe. Und da er mehrere Jünger hatte, die seine Lehre höreten und sie auch aufzeichneten, so waren gewöhnlich zwei, manchmal, so es viel zu tun gab, auch mehrere zur Seite und waren ihm bei seinen vielen Taufhandlungen behilflich und taufeten wohl auch in seinem Namen und in seiner Art. Da also für die damalige Zeit alle solche Umstände bei denen, die um Johannes waren, zu bekannt waren, so wurden sie auch nicht aufgezeichnet." (Ev I.7.1-4)

 

Diese Schreibart erschwert das Verständnis der Evangelien für den heutigen Leser. Denn die "Nebenumstände", die den Zeitgenossen noch vertraut waren, sind uns schon längst nicht mehr bekannt. Manchmal bleibt ein Text nur deswegen unklar, weil die (damals selbstverständliche) Situation des Gesprächs nicht mitgeteilt wird. Ein gutes Beispiel ist die "Hellenenrede" (Joh 12.20-36). Die NO ergänzt die fehlenden Umstände sehr sinnvoll; dagegen lesen sich manche Kommentare wie Märchenbücher. Einige Griechen wollen Jesus sehen; es entwickelt sich die folgende Szene (hier nur bis Vers 26 zitiert):

 

20"Es waren aber einige Griechen unter denen, die hinaufkamen, um auf dem Fest anzubeten. 21Diese nun kamen zu Philippus von Betsaida in Galiläa und baten ihn und sagten: Herr, wir möchten Jesus sehen. 22Philippus kommt und sagt es Andreas, es kommt Andreas und Philippus, und sie sagen es Jesus. 23Jesus aber antwortete ihnen und spricht: Die Stunde ist gekommen, daß der Sohn des Menschen verherrlicht werde. 24Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. 25Wer sein Leben liebt, verliert es; und wer sein Leben in dieser Welt haßt, wird es zum ewigen Leben bewahren. 26Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach! Und wo ich bin, da wird auch mein Diener sein. Wenn mir jemand dient, so wird der Vater ihn ehren." (Joh 12,20-26)

 

Fragen sie sich selbst! Warum wenden sich die Griechen nicht direkt an Jesus? Und was hat Jesu "Antwort" mit dem Anliegen der Griechen zu tun? Der Kommentar von Jürgen Becker beantwortet unsere Fragen so: "Die Hellenen gehen nicht unmittelbar zu Jesus … Als Nichtjuden bedürfen sie der Vermittlung. So will es die Geschichte des frühen Christentums: Nicht Jesus missionierte Heiden, sondern die apostolischen Missionare führten Griechen zum Christentum."16 Wer das Johannesevangelium für das Produkt einer "Schule" hält, das Material also nicht mehr auf den historischen Jesus zurückführt, muß zu solchen Deutungen kommen. Zu unserer zweiten Frage schreibt Becker: "Wie im Nikodemusgespräch (3,3) tritt das Befremdliche der Selbstoffenbarung Jesu darin zutage, daß Jesus gar nicht direkt den ihm vermittelten Wunsch der Hellenen aufgreift."17 Nach Becker werden die Griechen sogar "abgewiesen"18. Der Text sagt das nicht; er sagt aber auch nicht, daß sie angenommen werden. Der Text schweigt. Mit Blick auf die ganze Rede (also bis Vers 36) meint Becker dann noch zu den Versen 24 bis 26: "Die internen Verhältnisse der Rede sind allerdings jetzt durch V 24-26 erheblich gestört. Diese Verse sind der KR [kirchlichen Redaktion] zuzuschreiben … Sie … stören … im Kontext."19 Die derzeitige Exegese (Becker ist nur ein Beispiel) wird den johanneischen Texten nicht gerecht, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgeht. Die Texte sind nicht so ausführlich wie es unsere schreibfreudige Zeit gern hätte. Daher ist der Weg der NO, das Fehlende zu ergänzen, sinnvoll.

 

Aus dem Großen Evangelium ergibt sich das folgende Bild. Die Griechen wollen Jesus sehen, wenden sich aber nicht direkt an ihn, weil sie sich durch die Situation im Tempel (dort spielt die Szene) gehindert fühlen. Jedem Zeitgenossen war sie klar, mußte also nicht eigens berichtet werden. Die Griechen befanden sich im Vorhof der Heiden; Jesus dagegen im "innere[n] Heiligtum" (vgl. Ev XI.67.36). Dieser Bereich war nur Juden zugänglich. "Es war … den Nichtjuden verboten, das innere Heiligtum zu betreten, weswegen an der Grenze, bis zu der solche Nichtjuden gehen durften, Warnungstafeln angebracht waren." (Ev XI.67.36) Diese Tafeln sind sogar (im Jahre 1871)20 gefunden worden. Sie verboten Nichtjuden bei Todesstrafe (!) die inneren Vorhöfe des Tempels zu betreten. Das war die harte Realität! Und was taten die Griechen? Sie "sahen Philippus an dieser Grenze stehen und baten ihn, sie möchten Jesus gerne sehen und wo möglich sprechen. Philippus wagte es jedoch nicht, diese beiden aufzufordern, zu Mir zu gehen, da das Verbot ihm zu beachtenswert erschien. Daher sagte er es Andreas, und beide gingen nun zu Mir … Da sagte Ich ihnen, sie sollten die Griechen auffordern, zu Mir zu kommen." (Ev XI.67.37) Der Vermittlungsdienst der beiden Jünger ist damit erklärt. Der NO-Fassung ist auch zu entnehmen, daß Jesus eine Antwort gab. Der Evangelist hat sie jedoch nicht überliefert, denn er hatte Wesentlicheres im Auge (nämlich den inneren Sinn). Daher zeichnete er nur den Kernsatz auf: "Die Stunde ist gekommen, daß der Menschensohn verherrlicht wird!" Die NO-Fassung lautet vollständiger: "Jetzt ist die Zeit gekommen, daß des Menschen Sohn verklärt werde; denn nun hat er sich gänzlich Selbst überwunden." (Ev XI.67.39) Jesus überwindet also, indem er die Griechen öffentlich auffordert das heilige Verbot (vgl. Apg 21.28) zu übertreten, den letzten Rest von Menschenfurcht. Die ewige Liebe läßt sich nicht mehr durch menschlichen Eigennutz fesseln. Sie verströmt sich über jüdische Schranken hinweg bis zu den Heiden; sie verherrlicht den Menschensohn, der diese allumfassende Liebe zuläßt. Doch die Griechen fürchteten sich, "das Verbot zu überschreiten, und blieben daher an der Grenze stehen" (Ev XI.67.37). "Mit dem Hinweis auf jene Griechen, die furchtsam ferne standen, sprach Ich nun laut: Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren, und wer sein Leben auf dieser Welt haßt, der wird es erhalten zum ewigen Leben!" usw. (Ev XI.67.40). Die Hellenenrede zeigt, wie ein schwer verständlicher Text durch die Ergänzung der Begleitumstände leicht verständlich wird.

 

Die Analyse der Griechenszene zeigt auch, daß die seltsamen Antworten Jesu eine Folge der damals gebräuchlichen Schreibweise sein können. Dazu ein weiteres Beispiel, das Nikodemusgespräch. Dieser hochangesehene Pharisäer kam nachts (= in seiner Unwissenheit) zu Jesus und sprach: "Rabbi, wir wissen, daß du von Gott gekommen bist als Lehrer. Denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn Gott nicht mit ihm ist." (Joh 3.2) Dann heißt es: "Jesus antwortete …" Doch Nikodemus hat gar keine Frage gestellt. Außerdem scheint kein Zusammenhang zwischen der "Antwort" Jesu und den Worten des Nikodemus zu bestehen. Jesus "antwortete" nämlich: "Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen." (Joh 3.3) Das Große Evangelium ergänzt hier die Frage des Nikodemus: "Da du sonach ein offenbarer Prophet bist und sehen mußt, wie sehr wir im argen liegen, uns aber dennoch durch Deine Vorgänger das Gottesreich verheißen ist, so sage mit gefälligst, wann dieses kommen wird, und so es kommt, wie man beschaffen sein muß, um in dasselbe zu gelangen?" (Ev I.18.2) Damit ist der Zusammenhang hergestellt. Der Evangelist beschränkte seine Schilderung auf die wesentlichen Aussagen. Das geht sogar soweit, daß selbst der Gesprächspartner Jesu (hier also Nikodemus) ausgeblendet wird (ab Vers 10). Für den heutigen Leser mündet der Dialog damit in einen Monolog.

 

Am folgenden Text aus den Tempelgesprächen Jesu läßt sich zeigen, wie das Große Evangelium Zwischengedanken ergänzt und damit den Gedankengang durchsichtiger macht. Außerdem ist der griechische Text (also der sogenannte Urtext) an einer Stelle (Vers 25) schwer zu deuten, möglicherweise sogar verdorben. Hier verbessert das Große Evangelium den Text. Doch schauen wir uns zunächst den überlieferten Text an.

 

Jesus sagte zu den Juden: "23Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. 24Darum habe ich euch gesagt, daß ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, daß ich bin, werdet ihr sterben in euren Sünden. 25Da fragten sie ihn: Wer bist du denn? Und Jesus sprach zu ihnen: Zuerst das, was ich euch sage." (Anderer Übersetzungsvorschlag: Warum rede ich überhaupt noch zu euch?) (Joh 8.23-25)

 

Der Text sagt: wer von unten (oder von der Welt) ist, wird in seinen Sünden sterben. Warum eigentlich? Kann man die innere Logik des Gedankens irgendwie verdeutlichen? Die NO tut es, indem sie einen Gedanken ergänzt: "Ihr seid da von unten her und werdet wieder da hinabkommen; Ich aber bin von oben her und werde ganz sicher auch wieder dahin zurückkehren …" (Ev VI.198.17). Ursprung und Ziel sind identisch. Daher kann es für diejenigen, die aus der Materie (Naturseelenentwicklung) kommen, keine Befreiung aus dem Einflußbereich der Materie geben. Nur der Glaube an den Gottgesandten kann erlösen. Das seltsam kurze "ich bin" (Vers 24) wird durch das Große Evangelium konkretisiert: "… daß eben Ich der Verheißene und nun zu euch gekommene Messias bin" (Ev VI.198.21). Doch der Unglaube fragt weiter: "Wer bist du denn?" Die Antwort Jesu in Vers 25 ist kaum noch zu verstehen, weswegen es die beiden oben erwähnten Übersetzungsvorschläge gibt. Dem Großen Evangelium zufolge antwortete Jesus: "Erstens bin Ich Der, der Ich soeben mit euch rede!" (Ev VI.198.23) Das kann man mit dem Urtext vereinbaren (wenn man von leichter Textverderbnis ausgeht). Das sind nur einige Beispiele. Sie zeigen, welche Konsequenzen sich für das Verständnis des Johannesevangeliums ergeben, wenn man das vollständigere Große Evangelium heranzieht.

 


3. Der Entsprechungscharakter des Johannesevangeliums


Der Verfasser des Johannesevangeliums war mit den Entsprechungen vertraut; er wußte, daß hinter dem irdischen Wirken Jesu eine geistige Wahrheit zu suchen ist. Dementsprechend wählte Johannes die Sprache und den Stil seines Evangeliums; immer bestrebt, das Natürliche für das Geistige transparent zu machen. Zum Entsprechungscharakter des Johannesevangeliums heißt es im Lorberwerk: Johannes gab sich "am meisten mit den geistigen Entsprechungen" ab (Ev VI.42.1). Daher sind in seinem Evangelium "die Hauptmomente richtig in rechter Entsprechung" (Ev I.34.2) aufgezeichnet. Wenn man das weiß, dann wird manche Erscheinung im Johannesevangelium verständlicher; vor allem die typisch johanneische Doppelsinnigkeit des Ausdrucks. Sie zeigt, daß das Natürliche im Munde Jesu nicht nur Natürliches meint.

 

Diese Eigenart der johanneischen Sprache ist längst beobachtet und zutreffend beschrieben worden. So stellt Jürgen Becker fest: "In den joh Dialogen begegnen häufig Mißverständnisse, die nach einem ganz bestimmten Schema funktionieren. Dabei hat ein Wort zwei Bedeutungen. Das Mißverständnis basiert auf dem irdischen Sinn, während die göttliche Bedeutung den eigentlichen Sinn erschließt. Das Mißverständnis geht also nicht von einer falschen Wortbedeutung aus, sondern wähnt nur, diese eine irdische Bedeutung sei gemeint. Die göttliche Bedeutung wird gar nicht erst in den Verstehenshorizont aufgenommen (Bultmann)."21

 

Immer wieder zeigt sich im Johannesevangelium, daß Jesu Gesprächs-partner einem irdisch-natürlichen Verständnis verhaftet sind; während Jesus Geistiges meint. Im Tempel rief er aus: "Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten." (Joh 2.19) Die Juden verstanden den herodianischen Steintempel; Jesus "aber meinte den Tempel seines Leibes" (Joh 2.21). Doppeldeutig ist auch das Wort für "aufrichten", das zugleich "auferwecken" bedeutet und somit auf die Auferweckung Christi hinweist. Im Gespräch mit Nikodemus sagte Jesus: "Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen." (Joh 3.3) Doch selbst "der Lehrer Israels" (Joh 3.10) konnte den geistigen Sinn dieser Worte nicht erfassen. Deswegen seine Rückfrage: "Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden." (Joh 3.4) Nikodemus verstand die fleischliche Geburt; Jesus die geistige ("aus Wasser und Geist"; Joh 3.5). Doppelsinnig ist auch das griechische Wort, das ich hier mit "von neuem" übersetzt habe; es kann genauso "von oben" bedeuten. Nikodemus verstand "von neuem", Jesus "von oben". Der Frau am Jakobsbrunnen bot Jesus "lebendiges Wasser" (Joh 4.10) an. Sie verstand nicht, daß das ein Bild für die innere Wahrheit ist; sie verstand "frisches, fließendes Wasser". Der ungläubigen Volksmenge sagte Jesus: "Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot ißt, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch" (Joh 6.51). Das Brot bezeichnet die Liebe Gottes in ihrer materiellen, d.h. worthaften Umhüllung. Die johanneischen Mißverständnisse sind vielleicht der auffallendste Hinweis darauf, daß der Verfasser um die Hintergründigkeit des Christusgeschehens wußte. Aber der einzige Hinweis sind sie nicht. Die Wunder heißen bei Johannes "Zeichen"; sie bezeichnen also etwas. Auch der Kreuzestod wird beziehungsreich Erhöhung genannt. Wieder ist ein äußeres Geschehen transparent geworden, so daß die eigentliche Gotteswirklichkeit durchscheinen kann.

 

Im Großen Evangelium werden einige Texte des Johannesevangeliums dem inneren Sinn nach gedeutet: die Hochzeit zu Kana (Joh 2.1-11 in: Ev I.10.13-18), die Tempelreinigung (Joh 2.14-22 in: Ev I.16.3-19), die Speisung der Fünftausend (Joh 6.1-15 in: Ev VI.42.1-5) und die Auferweckung des Lazaraus (Joh 11.1-44 in: Ev XI.43.1-8). Gelegentlich findet man den inneren Sinn als Einschub in Klammern. Ein eindrückliches Beispiel ist die Brotrede (Joh 6), die stark verhüllt und besonders anstößig ist, weil Jesus eine Trennung von denjenigen herbeiführen wollte, die für den geistigen Sinn seiner Botschaft noch lange nicht reif waren (vgl. Ev VI.43.4).

 

"Sagte Ich: O murret nicht untereinander! (6.43) Ich sage es euch noch einmal: Es kann niemand zu Mir kommen (Mich erkennen), es sei denn, daß ihn ziehe der Vater (die Liebe aus Gott und zu Gott), der Mich gesandt hat, und nur Ich (Mein Wort und Meine Lehre) werde ihn auferwecken am jüngsten Tage! (6.44) Es steht aber sogar geschrieben in den Propheten: In jener Zeit aber, die da kommen wird - und nun da ist -, werden sie alle von Gott gelehrt sein! Und Ich sage euch nun eben darum: Wer es nun lernt vom Vater (Gottes Liebe), der kommt zu Mir (der auch wird Mich wohl erkennen). (6.45) Ich sage euch aber das nun nicht etwa unter der Voraussetzung, als habe von euch jemand den Vater gesehen, - sondern eben allein Ich, der Ich vom Vater ausgegangen bin, habe den Vater gesehen zu aller Zeit. (6.46) Darum sage Ich euch trotz eures Murrens: Wahrlich, wahrlich, wer an Mich glaubt, der hat schon in sich das ewige Leben (also Meine volle Erweckung am jüngsten Tage)! (6.47) Und Ich Selbst bin vollwahr das Brot des Lebens! (6.48) Eure Väter haben wohl Manna in der Wüste (sinnliches Fleischleben) gegessen, aber sie sind gestorben, ihrer gar viele auch in ihren Seelen. (6.49) Dies Brot aber, das Ich in Mir Selbst vorstelle, und das wahrhaft vom Himmel alles Seins und Lebens gekommen ist, wirkt, daß jeder, der davon ißt (die Lehre gläubig annimmt und danach tut), nimmermehr sterbe. (6.50) Wahrlich, Ich bin als das lebendige Brot vom Himmel gekommen! Wer von diesem Brote essen (die Lehre werktätig annehmen) wird, der wird fortan leben in Ewigkeit! Und sehet, das Brot, das Ich geben werde, ist Mein Fleisch, das Ich geben werde für die Menschenleben dieser Welt! (6.51) (Darunter ist zu verstehen die äußere, materielle Umhülsung Meines Wortes, innerhalb dessen sich das lebendige, geistige Wort befindet wie der lebendige Keim in seiner toten Umhülsung.) … Und Ich sage euch nun noch bei weitem mehreres: Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken Sein Blut, so habet ihr kein Leben in euch! (6.53) (Was das Fleisch bedeutet, ist bereits gezeigt worden; das Blut als das eigentlich physische Lebensfluidum, das dem Leibe das Leben gibt, ihn erhält, ernährt und ihm den fortpflanzenden Lebenskeim gibt, ist das eigentliche, innere Lebensgeistige im äußern Buchstabenworte.)" (Ev VI.44.12-16 und 20)

 


4. Die Lehre im Hintergrund


Das Johannesevangelium ist eine Auswahl der Worte und Taten Jesu, die einen ganz bestimmten Zweck verfolgt, den der Evangelist selbst nennt: "Diese (Zeichen) sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen." (Joh 20.31) Johannes will also nur eins, Jesus als den Sohn Gottes darstellen und die Heilsbedeutung seiner Sendung zeigen. Sein Evangelium ist daher nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine Christologie mit soteriologischer Zuspitzung. Das hat zur Folge, daß selbst von der Lehre Jesu alles weggelassen ist, was diesem einen Zweck nicht dient. Gleichwohl sind im Johannesevangelium Aussagen enthalten, die eine ausführliche Erklärung verlangen, die also noch erkennen lassen, daß sie einst Teil einer umfassenden Lehre waren. Das vielleicht interessanteste Beispiel ist der johanneische Kosmosbegriff. Man kann erkennen, daß er in ein dualistisches Denken eingebettet ist. Aber die im Hintergrund stehende Lehre ist nicht mehr vollständig rekonstruierbar. Die NO zeigt uns das Ganze der Lehre Jesu, von der Einzelaussagen bis in das NT hineinragen.


4.1 Der Kosmosbegriff des Johannesevangeliums

 

Der Kosmos (= Welt) ist ein typisch johanneischer Begriff. An ihm läßt sich zeigen, wie die NO den geistigen Hintergrund einer johanneischen Sprechweise aufhellen kann. Die Beurteilung der "Welt" im Johannes-evangelium ist durchaus ambivalent. Einerseits betont der Prolog (Joh 1.1-18), daß alles (somit auch der Kosmos) durch das Wort (Gottes schöpferische Weisheit) geworden ist. Der Kosmos wäre demnach göttlichen Ursprungs und somit gut (vgl. den Schöpfungsbericht, Genesis 1, an den der Prolog anknüpft). Andererseits betont aber gerade das Johannesevangelium die widergöttliche Natur des Kosmos. In der dualistischen Sprache, die für das vierte Evangelium charakteristisch ist, steht der Kosmos Gott feindlich gegenüber. Das Wesen des Kosmos ist Finsternis und Lüge.22 In ihm ist eine böse Macht wirksam: "der Fürst der Welt". Dieser Begriff begegnet im NT nur bei Johannes und auch dort nur an drei Stellen (Joh 12,31; 14,30; 16,11).

 

In der NO sind die wenigen Aussagen des Johannesevangeliums zum Kosmos und seinem Herrscher zu einem großen Bild vereinigt. Die materielle Schöpfung ist aus einem Geisterfall hervorgegangen und dennoch Gottes gute Schöpfung. Denn in der Materie fängt die ewige Liebe den Fall auf und leitet die Rückführung ein. Gleichwohl ist in der Materie keine Wahrheit (Beständigkeit) zu finden, denn das Sein der Materie entpuppt sich angesichts der Vergänglichkeit als bloßer Schein. Das Sein in der Materie ist somit ein Sein in der Lüge, und wer sich auf diese Lüge einläßt, wird zum Lügner und somit zum Widersacher Gottes. In der Materie ist daher eine böse und trügerische Macht am Werke, der sogenannte "Fürst der Welt". Das ist Luzifer, der gefallene und zur materiellen Schöpfung erstarrte Lichtgeist. Über das Verhältnis des Satans zur Welt werden wir in der NO ausführlich aufgeklärt. Der Aufenthaltsort des Satans ist nicht (wie bisher geglaubt) die Hölle, sondern die materielle Schöpfung. Einen "gewissen persönlichen Ursatan und persönliche Urteufel hat es in der Wirklichkeit niemals woanders gegeben als nur in der gerichteten Weltmaterie aller Art und Gattung" (Ev VIII.34.21). "Verstehe sonach unter 'Satan' im allgemeinen die ganze materielle Schöpfung und unter 'Teufel' das getrennte Spezielle derselben." (Ev VIII.34.9) "Der Satan ist die Zusammenfassung des gesamten Materiemußgerichts." (Ev VIII.35.14) Der "Teufel oder der Satan" "ist die tote Materie und die in sie gebundenen und dadurch oft eine überaus lange Zeit hin gerichteten Geister" (Suppl. 249). "Sieh, das, was man 'Satan' und 'Teufel' nennt, ist die Welt mit aller ihrer verführerischen Pracht." (Ev V.94.2) "Es gibt zwar keine urgeschaffenen Erzteufel in der Art, wie ihr euch dieselben vorstellet, - aber dennoch ist alles der Materiewelt in seinem Urelement ebensoviel wie ein urgeschaffener Erzteufel … und wer sich von der Welt und seinem Fleische zu sehr gefangennehmen läßt, dessen Seele ist dann auch ein persönlicher Teufel …" (Ev IX.134.7) Die NO versteht also den "Fürsten der Welt" des Johannesevangeliums sehr wörtlich als "Fürst der Materie." (Ev XI.17.27) In der "Welt" ist ein böser Geist wirksam, der mittels seiner "verführerischen Pracht" die Menschen verführen will. Wer diesen Weltgeist in sich aufnimmt, der wird weltlich. Daher ist der Kosmosbegriff des Johannesevangeliums zugleich ein anthropologischer Begriff.

 

Der Fürst der Welt ist zugleich ein "Fürst der Finsternis" (Ev XI.67), denn die Welt ist Finsternis. In diese Finsternis kam das Licht (die Wahrheit des Geistes in Christus): "Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben." (Joh 8.12) "Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe." (Joh 12.46)


4.2 Die Christologie

 

Abschließend noch zu den Christusaussagen des Johannesevangeliums und ihrer Interpretation durch die NO. Die Aussagen über Christus bedürfen einer Deutung; das ist schon früh so gesehen worden und hat zu den dogmatischen Entscheidungen des 4. und 5. Jahrhunderts geführt. Die darauf basierenden Lehren werden jedoch den neutestamentlichen Texten nicht wirklich gerecht. Besonders mißlich ist die Rede von den göttlichen "Personen". Drei Personen sollen dennoch irgendwie ein einziges göttliches Wesen sein. Das entbehrt jeder Vorstellbarkeit und hat folglich dazu geführt, daß man sich Gott eben nicht mehr vorstellt. Man bedenke, was das heißt! Derjenige, der uns in Jesus Christus sicht- und vorstellbar geworden ist, ist in ein undurch-dringliches Mysterium zurückgefallen. Das ist die eigentliche Katastrophe des Christentums. Erst Emanuel Swedenborg im 18. und Jakob Lorber im 19. Jahrhundert haben in Jesus Christus wieder das Tor zur Gottheit, ja Gott selbst erkannt. Ihre Interpretation wird den alten Textzeugen vollauf gerecht. Wer sich darüber gründlich informieren will, der studiere "Die Wahre Christliche Religion" von Emanuel Swedenborg. Diese Darstellung beruht auf der Heiligen Schrift.

 

Alles christliche Denken muß von der Wahrheit ausgehen, daß Jesus Christus Gott selbst in Menschengestalt ist:

 

"Jesus Christus ist der alleinige Gott und Herr aller Himmel und aller Welten!" (GS I.74.14; vgl.a. GS I.51.15+19) "Jesus ist der wahrhaftige, allereigentlichste, wesenhafte Gott als Mensch." (GS II.13.3)

 

Im johanneischen Schriftum wird Jesus noch am ehesten als "Gott" bezeichnet. Allerdings sind das auch dort vereinzelte Aussagen. Die vielleicht deutlichste findet man im 1.Johannesbrief: "Er [Jesus Christus] ist der wahre Gott und das ewige Leben." (1.Joh 5.20) Im Johannesevangelium ist auf das Thomasbekenntis hinzuweisen: "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20.28) Und auf den Prolog. Christus ist das Wort (die göttliche Weisheit, vgl. Ev I.1.6f) und von diesem Wort heißt es: "… das Wort war Gott" (Joh 1.1). Und der Menschgewordene ist der "einziggeborene (od. eingeborene) Gott" (Joh 1.18). Das Wort ist das innere Wesen des Menschgewordenen; deswegen heißt es: "Und das Wort wurde Fleisch" (Joh 1.14).23 Gott kam als das Licht in die Welt (Joh 8.12). Doch im Unterschied zu dem ersten großen Lichtgeist, der sich von der ewigen Liebe trennte und damit in die Erstarrung der Materie fiel, erkannte sich das neue Licht (Christus) als das Licht der Liebe. Das Licht, das Christus hieß, suchte seinen Ursprung in der Liebe und nannte diesen Ursprung "Vater". Daher sprach das menschgewordene Licht, Christus, so oft von dem, der ihn gesandt hat.24 Man spricht sogar von der "Gesandtenchristologie" des Johannesevangeliums.

 

Als der vom Vater Gesandte ist der Sohn natürlich nicht mit dem Vater identisch. Die NO weiß diese Beobachtung zu berücksichtigen, ohne von "Personen" zu sprechen. Denn der Sohn ist zunächst, d.h. vor der Verherrlichung, "das Menschliche, durch das sich Gott in die Welt sandte" (WCR 92-94). "Ich bin, als nun ein Mensch im Fleische vor euch, der Sohn und bin niemals von einem andern als nur von Mir selbst gezeugt worden und bin eben darum Mein höchsteigener Vater von Ewigkeit" (Ev VIII.27.2). Johannes über den Herrn: "Als den Sohn ... erkenne ich nur Seinen Leib insoweit, als er ein Mittel zum Zwecke ist." (Ev IV.88.5)25 Im Zuge der Verherrlichung nimmt der Sohnbegriff eine weitere Bedeutung an. Der "eingeborene Sohn" (Joh 3.16) ist "die göttliche Weisheit." (Ev I.21.4; vgl.a. Vers 1)

 

"Jesus Christus ist der alleinige Gott und Herr aller Himmel und aller Welten! Er ist in Sich allein Seiner ewigen unendlichen Liebe zufolge der Vater, und Seiner unendlichen Weisheit zufolge der Sohn, und Seiner ewig allmächtigen unantastbaren Heiligkeit zufolge der Heilige Geist selbst." (GS I.74.14) Der Herr: "Der Vater, Ich als Sohn und der Heilige Geist sind unterscheidbar eines und dasselbe von Ewigkeit. Der Vater in Mir ist die ewige Liebe ... Ich als der Sohn bin das Licht und die Weisheit ... Damit aber das alles gemacht werden kann, dazu gehört noch der mächigste Wille Gottes, und das ist eben der Heilige Geist in Gott". (Ev VI.230.2-5) "Wie aber da Flamme, Licht und Wärme eines sind, also ist auch Vater, Sohn und Geist eines!" (Hg II.132.4)

 

Ein typisch johanneischer Begriff ist die Verherrlichung. Auch die Kreuzigung wird als Verherrlichung begriffen: "Vater, die Stunde ist da: verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche" (Joh 17.1). Die Kreuzigung wird ferner als Erhöhung bezeichnet, d.h. als Aufstieg des Sohnes zum Vater. Von der Liebe ist das Licht als Bote des Lebens ausgegangen; zur Liebe kehrt es reicher wieder zurück, denn unterwegs hat Gott das angenommene Menschliche (den Sohn) verherrlicht. Verherrlichen bedeutet zum Vater gehen, mit dem Ursprung in Gott oder in der Liebe einswerden und somit vergöttlichen. Seit dieser Verherrlichung des Sohnes (des Menschlichen) hat Gott ein menschliches Gesicht. Der Unschaubare ist in Jesus Christus schaubar geworden: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen". (Joh 14.9) "Ich und der Vater sind eins." (Joh 10.30)

 

"Dieses Wesen [der Liebe Gottes] ist das Göttlich-Menschliche, oder es ist der dir undenkbare Gott in Seiner Wesenheit ein vollkommener Mensch." (GS II.60.16) "Daher sprach Ich nach des Judas Fortgang: 'Nun ist des Menschen Sohn verklärt, und Gott ist verklärt in Ihm. Ist Gott verklärt in Ihm, so wird Ihn Gott auch verklären in Sich Selbst und wird Ihn bald verklären!' [Joh 13.31f] Das heißt also: Der Menschensohn wird wahrhaft Gottes Sohn sein, und der Vater wird Sich bald für alle Ewigkeit mit Ihm vereinen." (Ev XI.71) Der Herr: "Ich werde nun auch dieses Menschliche ... noch auf dieser Welt ... ganz in Mein Urgöttliches verkehren und sodann auffahren zu Meinem Gott, der in Mir ist." (Ev VI.231.6)

 

(Mit Genehmigung des Verfassers, 07/11)


Anmerkungen:

1) Vgl.Swedenborg HG 6960: Die Brust entspricht der Liebe. / 2) Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, 3 1971, S.12. / 3) Die Autorfrage wurde 1820 von K.G.Bretschneider neu gestellt (vgl.LThK Bd.5, Sp.1101). / 4) Jerusalem wurde 70 n.Chr.von den Römern zerstört. / 5) Papias erwähnt in der Einleitung seiner "Auslegung der Herrenworte" zwei Personen mit Namen Johannes. Der eine steht mit Namen des Zwölferkreises zusammen, womit nur der Zebedaide Johannes gemeint sein kann. Der andere ist offensichtlich unter der Bezeichnung "der Presbyter Johannes" bekannt: "Ich will mich die Mühe nicht verdrießen lassen, alles, was ich einst von den Alten (od. Presbytern) gut gelernt und gut behalten habe, mit den Auslegungen (der Herrenworte) zusammen darzustellen, indem ich mich für ihre Wahrheit verbürge. Denn ich hatte meine Freude nicht wie die Menge an denen, die viele Worte machen, sondern an denen, die die Wahrheit lehren, auch nicht an denen, die der fremden Gebote gedenken, sondern an denen, die der vom Herrn für den Glauben gegebenen und von der Wahrheit selbst herrührenden Gebote gedenken. Kam aber etwa auch einer, der den Alten nachgefolgt war, so pflege ich nach den Worten der Alten zu forschen, was Andreas oder was Petrus gesagt hatte oder was Philippus oder was Thomas oder Jakobus oder was Johannes oder Matthäus oder irgendein anderer der Jünger des Herrn und was Ariston und der Alte Johannes (der Presbyter Johannes), die Jünger des Herrn, sagen. Denn was aus den Büchern kommt, hielt ich nicht für so wertvoll für mich wie das, was von lebendiger und bleibender Stimme kommt." (Eusebius KG III.39). / 6) Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/1, 1985, S.27. / 7) Felix Porsch, Johannes-Evangelium, Stuttgarter Kleiner Kommentar Bd.4., 1988, S.18. / 8) Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/1, 1985, S.41. / 9) a.a.O., S.49. / 10) Im 18. Jahrhundert datierte man noch später (vgl.F.Chr.Baur). Das ist heute nicht mehr möglich, denn allen "bis dahin beliebten Spätdatierungen hat die Entdeckung (1935) und die Publikation (durch Roberts) sowie die Auswertung und Datierung (um 125 n.Chr.) des p52 den Boden entzogen." (TRE 17 (1988) 200). p52 ist die wissenschaftliche Bezeichnung des wichtigsten Papyrusfundes. / 11) Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, 31971, S.12. / 12) John A.T.Robinson, Wann entstand das Neue Testament?, 1986, S.9 (aus dem Vorwort). / 13) Donald Guthrie, New Testament Introduction: The Gospels and Acts, 1965. / 14) Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/1, 1985, S.162. / 15) a.a.O., S.32. / 16) Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/2, 1984, S.384. / 17) a.a.O., S.384. / 18) a.a.O., S.381. / 19) a.a.O., S.382. / 20) Peter Connollfy, Das Leben zur Zeit des Jesus von Nazareth, 1984, S.36. / 21) Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/1, 1985, S.135. / 22) Ausführlich dargestellt bei Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 51965, S.367f. / 23) Es gibt auch einige Aussagen, die die Göttlichkeit Jesu ebenfalls, aber indirekt zum Ausdruck bringen: Zu Joh 5.18 schreibt Walter Bauer: "Die Juden verstehen richtig, was der jo. Christus meint, daß nämlich der Anspruch Gottes Sohn zu sein, in seinem Munde nichts anderes als die Anerkennung seiner Wesensgleichheit mit Gott (1.1) fordert." (Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, 31933, S.82). Zu Joh 3.35: Ein Indiz der Göttlichkeit Jesu ist die "Übertragung der schlechthin alles umfassenden, also gottgleichen Macht auf den Sohn" (Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, 31933, S.65). / 24) Belegstellen: Joh 4,34; 5,23f; 6,44; 7,16-18; 8,26.29; 12,44f; 14,24. / 25) Der "Leib" Christi ist der "Sohn Gottes" (Ev X. 195.3). "Dein heiliger Leib ist Dein Sohn, und Du, Vater, bist in Dir vor uns armen Sündern und Würmern dieser Erde!" (Ev VI.200.2)